Leben

Aufgewachsen bin ich in zwei Dörfern. Das eine, Goldbach, habe ich schon nach wenigen Monaten mit meinen Eltern verlassen. Und kehre nur einmal im Jahr zurück, immer kurz vor Weihnachten. In der Metzgerei des Orts macht die Familie für das Fest seit jeher nach altem Rezept geringelte Weinwürstchen, so wie sie in der Heimat gegessen wurden, aus der sie vertrieben war, Nordböhmen. Ich habe den Brauch übernommen und hüte das Geheimnis einer Zutat. Das andere Dorf, Eschersheim, habe ich bis heute nicht verlassen. Es gehört seit gut hundert Jahren zu Frankfurt. Viel länger schon, ein Vielfaches dieser Zeit, steht an der Hauptstraße als das Wahrzeichen des Stadtteils ein Lindenbaum. In dessen unmittelbarer Nähe ging ich zur Schule, weil meine Mutter dort zur Schule ging, sie aber als Lehrerin. In der Schlosserei gegenüber dem Tor zum Pausenhof lasse ich ab und zu mein altes Fahrrad schweißen, wenn die Gabel mal wieder angebrochen ist. Ich wohne in einem Haus, das mir schon als Kind auffiel, weil dort jeden Morgen ein korrekt gekleideter Chauffeur mit Schirmmütze an seinem schwarzen Mercedes wartete, um den damaligen Besitzer zur Arbeit abzuholen. Das Auto-Kennzeichen hatte ich mir gemerkt. Raus kam ich aus der Ecke, als ich, vielleicht war es eine Entschädigung, für die Reisehefte verantwortlich war beim F.A.Z.-Magazin, dem klassischen, das zum Jahrtausendwechsel eingestellt wurde. Dort arbeitete ich vierzehn Jahre als Redakteur. Zuvor berichtete ich im Sportteil der „Frankfurter Allgemeinen“ über Fußball oder Tennis oder den „Tod des Liberos“. Meinen ersten Text schrieb ich, neunjährig, aus tiefer Enttäuschung auf der schweren Triumph-Reiseschreibmaschine meines Vaters. Meine Eltern zwangen mich in die Wintererholung in den Schwarzwald, ausgerechnet in der Faschingswoche, als ich mich mit den Freunden zum Abenteuer in Indianermontur verabredet hatte. Das Stück hat 22 Kapitel, ist ein Krimi und trägt den alles verratenden Titel „Von Schopfloch nach Frankfurt“. Meine Deutschlehrerin prophezeite mir einmal, dass ich das Abitur nicht schaffen werde, schon gar nicht in Deutsch. Das war kurz vor der Abschlussprüfung. Viele Jahre später trafen wir uns beim Einkauf wieder; ich veröffentlichte inzwischen regelmäßig in der Zeitung. Sie sagte nur, sie habe es immer gewusst. Ich wagte nicht, ihr zu widersprechen. Der Rest ist schnell erzählt. Studium der Theologie, zunächst bei den Jesuiten, dann Philosophie und Germanistik an der Goethe-Universität in Frankfurt. Wenn Philosophen meinen, sie sollten mal praktisch sein, fällt ihnen meist nichts Besseres ein, als dass sie Berater werden. Und wenn sie glauben, sie müssten das besonders intelligent anstellen, werden sie Berater der Berater. Ich bin also für viele bei der Boston Consulting Group oder bei Bain & Company ein zuweilen verständiger und oft widerständiger Partner geworden in Fragen der Strategie oder der Sprache solcher unternehmensverändernden Überlegungen, was fast dasselbe ist, wenn man annimmt, dass das Denken nur im Wort geschieht. Überhaupt dreht sich vieles ums Wort in meinem Leben, die Lehre an der Universität Witten/Herdecke in Philosophie und Rhetorik, das, was man in der Branche Coaching nennt, das Schreiben von Aufsätzen und Büchern oder die Gestaltung von Geschäftsberichten und die Entwicklung von Zeitschriften. Viele Wörter, viel Wort. Deswegen zum Schluss noch eine Zahl: 1956. Da wurde ich geboren.